Chinesische Eisblumen 2.0
Portraits chinesischer Frauen in modernen Collagen von Barbara Spielmann –
inspiriert von historischen Hinterglasbildern der Sammlung Mei-Lin
In den Collagen werden traditionelle, chinesische Frauenbilder durch Montage und Neukombination einzelner Elemente verändert und in einen vielfarbigen Kosmos getaucht. Sie lösen sich dabei aus ihrem ursprünglichen, streng reglementierten Kontext und treten in das wesentlich freiere Medium der Collage ein. Dadurch werden sie Teil einer bunten Welt im schnellen Wandel und es entsteht ein neuer Blick auf diese weiblichen Figuren. Die vielfältigen Möglichkeiten der Collage-Technik geben Raum für Improvisation, Zufall und Widerspruch.
Inspiriert wurden diese Collagen durch Frauenportraits in historischen Hinterglasbildern der Sammlung Mei-Lin („Bolihua“) aus dem China der Jahrhundertwende (1860-1920), als das Kaiserreich zu Ende ging und Chinas Aufbruch in die Moderne begann.
Viele der Frauen in den Hinterglasbildern waren Kurtisanen oder lokal populäre Schauspielerinnen, die sich als feine Schönheiten und Ladies der Gesellschaft („Chinese Beauties“) inszenieren und in konventioneller Weise als gesittete Damen portraitieren ließen. Trotz einer gewissen Schlichtheit und Unnahbarkeit waren sie die „Pin-Up-Girls“ ihrer Zeit in China. Diese Facette ihrer Existenz schimmert in vielen Details der Hinterglasbilder durch und verleiht der Beschäftigung mit diesen Portraits einen besonderen Reiz.
Die Idee, traditionelle, symbolische Bildwelten in den freieren Farb- und Gestaltungskosmos einer Collage zu überführen, entstand 2020 während der Vorbereitungen für eine Ausstellung der historischen Hinterglasbilder der Sammlung Mei-Lin in Hongkong. Die intensive Beschäftigung mit den Bilddetails erwies sich als Schlüssel zum Verständnis der Werke. Die Frisuren, Kostüme und Accessoires sowie die Sitz- und Körperhaltung der Frauen, aber auch die Räume, in denen sie sich bewegen und die gezielt plazierten, symbolischen Elemente, wie Fächer, Blüten und Früchte, gaben Hinweise auf ihre Identität und soziale Stellung. Nachzuverfolgen ist der spannende Prozess der Entschlüsselung dieser Bildwelten unter Historische Hinterglasbilder der Sammlung Mei-Lin. Diese weltweit einzigartige Kollektion der Privatsammler Rupprecht Mayer und Haitang Mayer-Lin umfasst - neben den Frauenportraits - auch eine vielfältige Auswahl an traditionellen, symbolbeladenen Gemälden mit Landschafts- und Glücksmotiven sowie Opernszenen und Impressionen aus dem chinesischen Alltag.
Bei der Beschäftigung mit den historischen Bildern fiel auch auf, dass viele der Portraits aus variablen „Modulen“ bestanden - ähnlich verkleideten Anziehpuppen. Das gilt nicht nur für die zahlreichen Doppelbilder, die fast identische Frauen lediglich spiegelbildlich verkehrt zeigen, sondern auch für viele Bilddetails überhaupt. Einfache Schwarzweißkopien der Frauenportraits verstärken diesen Eindruck. Vor allem die wenig belebte Mimik in den geschminkten Gesichtern, die leicht gebückte Kopfhaltung und die arrangierte, meist sitzende Pose, tragen wesentlich zum Eindruck von scheinbar abweisenden, unnahbaren Frauengestalten bei. Trotz der dekorativen Pracht ihrer Frisuren und Kleidung erscheinen sie wie erstarrte Eisblumen, fast regungslos und statisch.
Diese Schwarzweißkopien der Bilder waren dann auch das Ausgangsmaterial für erste Versuche eines Neuarrangements dieser unnahbaren Schönheiten. Zunächst wurden nur die Umrisse ihrer Physiognomien auf farbig gemalte Untergründe übertragen, später wurden die „Eisblumen“ durch das Kombinieren mit Mustern und Farbstrukturen oder durch das Zufügen von Schrift- und Bildelementen nach und nach mit künstlerischen Mitteln „aufgetaut“. Auf diese Weise wechseln sie aus ihrer scheinbar heilen, aber starren chinesischen Bildwelt der Jahrhundertwende in unsere heutige visuelle Vielfalt.
In den fertigen Collagen erscheinen die Frauen auf einmal bewegt und animiert, aber zugleich auch vom modernen Leben irritiert. Ihre „Begegnung“ mit neuen, unbekannten Kombinationen aus Farben und Formen oder Schrift- und Designelementen aus der Werbung, fordert sie heraus. In den Collagen wirken die Frauen reifer und raffinierter, aber auch vom Leben gezeichnet.
Die meisten Collagen sind im Original auf kleinformatigem Malkarton erstellt. Zur Präsentation der Collagen bei Ausstellungen werden Acrylglas-Prints in größeren Formaten bevorzugt, weil sie die mehrschichtige Fertigungstechnik intensiver zur Geltung bringen.
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